Mittwoch, 30. November 2011

TO OSCAR WILDE

by
Lord Alfred Douglas


I dreamed of you last night, I saw your face
All radiant and unshadowed of distress.
And as of old, in measured tunefulness,
I heard your golden vioce and marked your trace
Under the common thing the hidden grace,
Till mean things put on beauty like a dress
And all the world was an enchanted place.

And so I knew, that it was well with you
And that unprisoned, gloriously free
Across the dark you streched me out your hand
And all the spite of this besotted crew
(Scrabbling on pillars of eternity)
How small it seems. Love made me understand.





Quelle: Frank Harris (2007) Oscar Wilde, His Life and Confessions, erschienen bei 1st World Inc., S.228

Sonntag, 16. Oktober 2011

REQUIESCAT


by Oscar Wilde


TREAD lightly, she is near
Under the snow,
Speak gently, she can hear
The daisies grow.


All her bright golden hair
Tarnished with rust,
She that was young and fair
Fallen to dust.


Lily-like, white as snow,
She hardly knew
She was a woman, so
Sweetly she grew.


Coffin-board, heavy stone,
Lie on her breast,
I vex my heart alone
She is at rest.


Peace, Peace, she cannot hear
Lyre or sonnet,
All my life’s buried here,
Heap earth upon it.

Samstag, 1. Oktober 2011

DES MENSCHEN SEELE UND DER TAUTROPFEN


von Wilhelm Müller

An des Lebens voller Blüte hängt des Menschen Seele fest,
Wie des Taues Perlentropfen in der Rose süßem Nest.
Aber wann er auf die Erde mit den welken Blättern sinkt,
Folgt er gern dem Strahl der Sonne, der ihn liebend in sich trinkt.

Donnerstag, 29. September 2011

TITHONUS



by Alfred Lord Tennyson


The woods decay, the woods decay and fall,
The vapours weep their burthen to the ground,
Man comes and tills the field and lies beneath,
And after many a summer dies the swan.
Me only cruel immortality
Consumes; I wither slowly in thine arms,
Here at the quiet limit of the world,
A white-hair'd shadow roaming like a dream
The ever-silent spaces of the East,
Far-folded mists, and gleaming halls of morn.
Alas! for this gray shadow, once a man--
So glorious in his beauty and thy choice,
Who madest him thy chosen, that he seem'd
To his great heart none other than a God!
I ask'd thee, "Give me immortality."
Then didst thou grant mine asking with a smile,
Like wealthy men who care not how they give.
But thy strong Hours indignant work'd their wills,
And beat me down and marr'd and wasted me,
And tho' they could not end me, left me maim'd
To dwell in presence of immortal youth,
Immortal age beside immortal youth,
And all I was in ashes. Can thy love
Thy beauty, make amends, tho' even now,
Close over us, the silver star, thy guide,
Shines in those tremulous eyes that fill with tears
To hear me? Let me go: take back thy gift:
Why should a man desire in any way
To vary from the kindly race of men,
Or pass beyond the goal of ordinance
Where all should pause, as is most meet for all?

A soft air fans the cloud apart; there comes
A glimpse of that dark world where I was born.
Once more the old mysterious glimmer steals
From any pure brows, and from thy shoulders pure,
And bosom beating with a heart renew'd.
Thy cheek begins to redden thro' the gloom,
Thy sweet eyes brighten slowly close to mine,
Ere yet they blind the stars, and the wild team
Which love thee, yearning for thy yoke, arise,
And shake the darkness from their loosen'd manes,
And beat the twilight into flakes of fire.
Lo! ever thus thou growest beautiful
In silence, then before thine answer given
Departest, and thy tears are on my cheek.

Why wilt thou ever scare me with thy tears,
And make me tremble lest a saying learnt,
In days far-off, on that dark earth, be true?
"The Gods themselves cannot recall their gifts."

Ay me! ay me! with what another heart
In days far-off, and with what other eyes
I used to watch ‹ if I be he that watch'd ‹
The lucid outline forming round thee; saw
The dim curls kindle into sunny rings;
Changed with thy mystic change, and felt my blood
Glow with the glow that slowly crimson'd all
Thy presence and thy portals, while I lay,
Mouth, forehead, eyelids, growing dewy-warm
With kisses balmier than half-opening buds
Of April, and could hear the lips that kiss'd
Whispering I knew not what of wild and sweet,
Like that strange song I heard Apollo sing,
While Ilion like a mist rose into towers.

Yet hold me not for ever in thine East;
How can my nature longer mix with thine?
Coldly thy rosy shadows bathe me, cold
Are all thy lights, and cold my wrinkled feet
Upon thy glimmering thresholds, when the steam
Floats up from those dim fields about the homes
Of happy men that have the power to die,
And grassy barrows of the happier dead.
Release me, and restore me to the ground;
Thou seest all things, thou wilt see my grave:
Thou wilt renew thy beauty morn by morn;
I earth in earth forget these empty courts,
And thee returning on thy silver wheels.

Samstag, 17. September 2011

GRAUES HEIMATNEBELLAND



von
Max Dauthendey


Fühle keine Kälte sehr,
Wenn die Nebel sich vereisen;
Denn mein Herz geht vor mir her,
Will mir Heimatwege weisen.

Aus den Fenstern durch die Nacht
Glänzen deutsche Weihnachtskerzen,
Und die deutsche Tanne lacht,
Und sie lacht zu meinem Herzen.

Nenne nichts auf Erden mein
Von dem großen Heimatgrunde,
Als den Regen nur allein
Und den Nebel in der Runde.

Graues Heimatnebelland,
Bin dir immer treu geblieben.
Nirgendwo ich Ruhe fand,
Heimweh hat mich heimgetrieben.

Sonntag, 24. Juli 2011

TRAGÖDIE DER KINDHEIT

von
Friedrich Nietzsche





Es kommt vielleicht nicht selten vor, dass edel- und hochstrebende Menschen ihren härtesten Kampf in der Kindheit zu bestehen haben: etwa dadurch, dass sie ihre Gesinnung gegen einen niedrig denkenden, dem Schein und der Lügnerei ergebenen Vater durchsetzen müssen, oder fortwährend, wie Lord Byron, im Kampfe mit einer kindischen und zornwüthigen Mutter leben. Hat man so Etwas erlebt, so wird man sein Leben lang es nicht verschmerzen, zu wissen, wer Einem eigentlich der grösste, der gefährlichste Feind gewesen ist.


(Aus: MENSCHLICHES, ALLZUMENSCHLICHES)

Dienstag, 19. Juli 2011

NUR WER DIE SEHNSUCHT KENNT

von
Johann Wolfgang von Goethe


Nur wer die Sehnsucht kennt,

Weiß, was ich leide!

Allein und abgetrennt

Von aller Freude,

Seh' ich an's Firmament

Nach jener Seite.

Ach! der mich liebt und kennt,

Ist in der Weite.

Es schwindelt mir, es brennt.

Mein Eingeweide.

Nur wer die Sehnsucht kennt,
Weiß, was ich leide!

Samstag, 9. Juli 2011

MEIN AUGE SIEHT AM BESTEN, SCHLIESST ES SICH

Sonett XLIII
von William Shakespeare
in der Übersetzung von Stefan George





Mein auge sieht am besten - schliesst es sich -
Da es sich tags an nichtige dinge wendet.
Doch - schlaf ich - blickt in träumen es auf dich -
Ist nächtig-hell - hell in die nacht gesendet.

Denn du - dess schatten hell durch schatten bricht -
Wie machte deines schattens form erst froh
Den klaren tag durch dein viel klarer licht -
Glänzt schon geschlossnem aug dein schatten so!

Wie - sag ich - wär das auges glück erst gross
Wenn es dich sähe im lebendigen tag -
Da schon in toter nacht dein schatten bloss
Durch schweren schlaf vor blinden augen lag.

Tag ist wie nacht zu sehn eh ich ich sah -
nacht heller tag - bringt dich der traum mir nah.


Dienstag, 24. Mai 2011

MEIN HERZ, MEIN HERZ IST TRAURIG


von Heinrich Heine

Mein Herz, mein Herz ist traurig,
Doch lustig leuchtet der Mai;

Ich stehe, gelehnt an der Linde,

Hoch auf der alten Bastei.


Da drunten fließt der blaue

Stadtgraben in stiller Ruh;

Ein Knabe fährt im Kahne,

Und angelt und pfeift dazu.


Jenseits erheben sich freundlich,

In winziger, bunter Gestalt,

Lusthäuser, und Gärten, und Menschen,
Und Ochsen, und Wiesen, und Wald.


Die Mägde bleichen Wäsche,

Und springen im Gras herum
;
Das Mühlrad stäubt Diamanten,

Ich höre sein fernes Gesumm.


Am alten grauen Turme

Ein Schilderhäuschen steht;

Ein rotgeröckter Bursche

Dort auf und nieder geht.

Er spielt mit seiner Flinte,
Die funkelt im Sonnenrot,

Er präsentiert und schultert -

Ich wollt, er schösse mich tot.

Dienstag, 10. Mai 2011

WIE MAG DIE LIEBE DIR KOMMEN SEIN?

von
Rainer Maria Rilke


Und wie mag die Liebe dir kommen sein?
Kam sie wie ein Sonnen, ein Blütenschein,
kam sie wie ein Beten? - Erzähle:

Ein Glück löste leuchtend aus Himmeln sich los
und hing mit gefalteten Schwingen groß
an meiner blühenden Seele....

Dienstag, 12. April 2011

DER WASSERGREIS

von Karl Marx

Wasser rauscht so seltsam dort,
Kreist sich in Wellen fort,
Glaubt wohl! es fühle nicht,
Wie sich die Woge bricht,
Kalt sei's im Herzen, kalt in dem Sinn,
Rausche nur, rausche nur hin.

Doch in den Wellen, im Abgrund heiß,
Sitzt gar ein alternder Greis,
Tanzt auf, tanzt ab, wenn der Mond sich zeigt,
Wenn Sternlein aus Wolken steigt,
Springt gar seltsam und ringt gar sehr,
Will trinken das Bächlein leer.

Wellen sind ja die Mörder sein,
Zehren und nagen des Alten Gebein,
Grinzt ihm eisig durch Mark und Glied,
Wenn er die Wogen so springen sieht,
Schneid't gar ein bängliches Wehgesicht,
Bis Sonnenglanz Mondtanz verbricht.

Wasser rauscht dann so seltsam dort,
Kreist sich in Wellen fort,
Glaubt' wohl, es fühle nicht,
Wie sich die Woge bricht,
Kalt sei's im Herzen, kalt in dem Sinn,
Rausche nur, rausche nur hin.

Sonntag, 3. April 2011

DANN

von
Else Lasker-Schüler


... Dann kam die Nacht mit deinem TRaum
Im stillen Sternebrennen.
Und der tag zog lächelnd an mir vorbei
Und die wilden Rosen atmeten kaum.

Nun sehn ich mich nach Traumesmai,
Nach deinem Liebeoffenbaren.
Möchte an deinem Munde brennen
Eine Traumzeit von tausend Jahren





Quelle:
Else Lasker-Schüler (1997) Die Gedichte 1902 - 1943, herausgegeben von Friedhelm Kemp, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main (S. 86)

Dienstag, 29. März 2011

OUT OF THE ROLLING OCEAN, THE CROWD

by
Walt Whitman

Out if the rolling ocean, the crowd, came a drop gently to me,
Whispering, I love you, before long I die,
I habe travel'd a long way, merely to look on you, to touch you,
For I could not die till I once look'd on you,
For I feared, I might afterwards lose you.

Now we have met, we have look'ed, we are sage;
Return in peace to the ocean, my Love;
I too am part of that ocean, my love --- we are not so much separated;
Behold the great rondure --- the cohesion of all, how perfect!
But as f0r me, for you, the irresitible Sea is to separate us,
As for an hour, carrying us divers --- yet cannot carry us divers for ever;
Be not impatient --- a little space --- Know you, I salut the air,the ocean and the land,
Every day, at sundown, for your dear sake, my Love.



Bildquelle: www. whitmanarchive.org










Freitag, 25. März 2011

APOLDA


von
Ilka Lohmann

Unbesungene Stadt.
Die Straßen ---
zu grau für Lieder.
Zu still, als daß Worte hallen könnten
von einem Ende bis zum Anfang.
Und dazwischen
nur Trübsal
zu allen Seiten.

Doch auch Zwielicht kann singen,
wenngleich nur von Tränen.

Erhebt euch,
singet das Grau!
Singt es
hinaus aus den Schatten.

Singt,
daß es Licht werde
und strahlt,
wohin auch immer
euer Blick sich wendet.

Singt,
damit die Schwalben
nicht nur vorüber fliegen
sondern sich niederlassen
auf den Dächern
und Nester bauen
neben unseren Fenstern.

Singt,
daß es Tag werde,
endlich
nach all diesem Staub.




Quelle:
Ilka Lohmann (2006) DER SEELE PFLASTERSTEINE, UND-Verlag, Stadtroda (S. 156f.)

Sonntag, 20. März 2011

ZU VIEL

von
Eduard Mörike

Der Himmel glänzt vom reinsten Frühlingslichte,
Ihm schwillt der Hügel sehnsuchtsvoll entgegen,
Die starre Welt zerfließt in Liebessegen,
Und schmiegt sich nun zum zärtlichsten Gedichte.

Im Dorfeshang, dort bei der luftgen Fichte
Ist meiner Liebsten kleines Haus gelegen ---
O Herz, was hilft dein Wiegen und dein Wägen,
Daß all der Wonnestreit in dir sich schlichte!

Du, Liebe, hilf den süßen Zauber lösen,
Womit natur in meinem Innern wühlet!
Und du, o Frühling, hilf die Liebe beugen!
Lisch aus, o Tag! Laß mich in Nacht genesen!
Indes ihr sanften Sterne göttlich kühlet,
Will ich zum Abgrund der Betrachtung steigen.

Montag, 14. März 2011

DIE BRÜCKE AM TAY


(28. Dezember 1879)

von Theodor Fontane


When shall we three meet again?
Macbeth

»Wann treffen wir drei wieder zusamm?«
»Um die siebente Stund', am Brückendamm.«
»Am Mittelpfeiler.«
»Ich lösche die Flamm.«
»Ich mit.«
»Ich komme vom Norden her.«
»Und ich vom Süden.«
»Und ich vom Meer.«
»Hei, das gibt einen Ringelreihn,
Und die Brücke muss in den Grund hinein.«
»Und der Zug, der in die Brücke tritt
Um die siebente Stund'?«
»Ei, der muss mit.«
»Muss mit.«
»Tand, Tand
Ist das Gebilde von Menschenhand.«

*

Auf der Norderseite, das Brückenhaus –
Alle Fenster sehen nach Süden aus,
Und die Brücknersleut' ohne Rast und Ruh
Und in Bangen sehen nach Süden zu,
Sehen und warten, ob nicht ein Licht
Übers Wasser hin »Ich komme« spricht,
»Ich komme, trotz Nacht und Sturmesflug,
Ich, der Edinburger Zug.«

Und der Brückner jetzt: »Ich seh' einen Schein
Am anderen Ufer. Das muss er sein.
Nun Mutter, weg mit dem bangen Traum,
Unser Johnie kommt und will seinen Baum,
Und was noch am Baume von Lichtern ist,
Zünd' alles an wie zum heiligen Christ,
Der will heuer zweimal mit uns sein, –
Und in elf Minuten ist er herein.«

*

Und es war der Zug. Am Süderturm
Keucht er vorbei jetzt gegen den Sturm,
Und Johnie spricht: »Die Brücke noch!
Aber was tut es, wir zwingen es doch.
Ein fester Kessel, ein doppelter Dampf,
Die bleiben Sieger in solchem Kampf,
Und wie's auch rast und ringt und rennt,
Wir kriegen es unter, das Element.«

»Und unser Stolz ist unsre Brück';
Ich lache, denk ich an früher zurück,
An all den Jammer und all die Not
Mit dem elend alten Schifferboot;
Wie manche liebe Christfestnacht
Hab' ich im Fährhaus zugebracht,
Und sah unsrer Fenster lichten Schein
Und zählte und konnte nicht drüben sein.«

Auf der Norderseite, das Brückenhaus –
Alle Fenster sehen nach Süden aus,
Und die Brücknersleut' ohne Rast und Ruh
Und in Bangen sehen nach Süden zu;
Denn wütender wurde der Winde Spiel,
Und jetzt, als ob Feuer vom Himmel fiel',
Erglüht es in niederschießender Pracht
Überm Wasser unten ... Und wieder ist Nacht.

*

»Wann treffen wir drei wieder zusamm?«
»Um Mitternacht, am Bergeskamm.«
»Auf dem hohen Moor, am Erlenstamm.«

»Ich komme.«
»Ich mit.«
»Ich nenn' euch die Zahl.«
»Und ich die Namen.«
»Und ich die Qual.«
»Hei!
Wie Splitter brach das Gebälk entzwei.«
»Tand, Tand
Ist das Gebilde von Menschenhand.«






Anmerkung
:
Am 28. Dezember 1789 kam es während eines Orkans zu einem Unglück in Dundee, Schottland. Die Firth-of-Tay-Brücke, die als ein technisches Wunderwerk ihrer Zeit galt, brach unter dem Wüten des Sturmes zusammen, während ein voll besetzter Personenzug die Brücke überquerte. Der Zug wurde ins Meer gerissen, es gab keine Überlebenden.





Freitag, 4. März 2011

DER NEUGIERIGE

von
Wilhelm Müller

Ich frage keine Blume,
ich frage keinen Stern,
sie können mir alle nicht sagen,
was ich erführ' so gern.

Ich bin ja auch kein Gärtner,
die Sterne stehn zu hoch;
mein Bächlein will ich fragen,
ob mich mein Herz belog.

O Bächlein meiner Liebe,
wie bist da heut' so stumm!
Will ja nur eines wissen,
ein Wörtchen um und um.

Ja! heißt das eine Wörtchen,
das andre heißet Nein,
die beiden Wörtchen schließen
die ganze Weit mir ein.

O Bächlein meiner Liebe,
was bist du wunderlich!
Will's ja nicht weiter sagen,
sag', Bächlein, liebt sie mich?




Donnerstag, 3. März 2011

OHNE GEIGE


von
Christian Morgenstern



Ich möchte eine Geige haben,
so ganz für mich allein,
da spielt ich all meine Schmerzen
und all meine Lust hinein.

Denn ach, ihr lieben Leute,
hr wißt nicht, was geigen heißt,
ihr habt wohl fleißige Finger,
doch nicht den heiligen Geist.

Ich höre die Welten singen,
wenn er mein Haupt durchweht --
doch ach, ich hab hab keine Geige,
ich bin nur ein armer Poet.

Mittwoch, 2. März 2011

DIE GEBRATENE AMEISE



von
Paul Scheerbart


Bei den fleißigen Ameisen herrscht eine sonderbare Sitte: Die Ameise, die in acht Tagen an meisten gearbeitet hat, wird am neunten Tage feierlich gebraten und von den Ameisen ihres Stammes gemeinschaftlich verspeist.

Die Ameisen glauben, daß durch dieses Gericht der Arbeitsgeist der Fleißigsten auf die Essenden übergehe.

Und es ist für eine Ameise eine ganz außerordentliche Ehre, feierlich am neunten Tage gebraten und verspeist zu werden.

Aber trotzdem ist es einmal vorgekommen, daß eine der fleißigsten Ameisen kurz vorm Gebratenwerden noch folgende kleine Rede hielt:

"Meine lieben Brüder und Schwestern! Es ist mir ja ungemein angenehm, das Ihr mich so ehren wollt! Ich muß Euch aber gestehen, daß es mir noch angenehmer sein würde, wenn ich nicht die Fleißigste gewesen wäre. Man lebt doch nicht bloß, um sich totzuschuften!"

"Wozu denn?" schrien die Ameisen ihres Stammes — und sie schmissen die große Rednerin schnell in die Bratpfanne — sonst hätte dieses dumme Tier noch mehr geredet.



Quelle:

Paul Scheerbart (1986) Meine Tinte ist meine Tinte - Prosa aus Zeitschriften, Eulenspiegel Verlag, Berlin, (S. 93)


Montag, 28. Februar 2011

GUTER GLAUBE


von Friedrich Hölderlin


Schönes Leben! du liegst krank, und das Herz ist mir
Weh vom Weinen, und schon dämmert die Furcht in mir,
Doch, doch kann ich nicht glauben,
Daß du sterbest, solange du liebst.

RANGORDNUNG DER GEISTESGABEN - DAS HOHELIED DER LIEBE

von
Apostel Paulus


Wenn ich mit Menschen-, ja mit Engelszungen redete, hätte aber die Liebe nicht, so wäre ich tönendes Erz oder eine gellende Scheibe. Und wenn ich die Prophetengabe hätte und alle Geheimnisse wüßte und alle Erkenntnisse und wenn ich allen Glauben hätte, sodass ich Berge versetzen könnte, hätte aber die Liebe nicht, so wäre ich nichts. Und wenn ich all meine Habe verschenkte und wenn ich meinen Leib zum Verbrennen hingäbe, hötte aber die Liebe nicht, so nützte es mir nichts.

Die Liebe ist langmütig, gütig ist die Liebem sie it nicht eifersüchtig, die Liebe prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf. Sie handelt nicht taktlos, sie sucht nicht den eigenen Vorteil, sie lässt sich nicht erbittern, sie trägt das Böse nicht nach. Sie freut sich nicht über das Unrecht, freut sich vielmehr mit an der Wahrheit. Alles glaubt sie, alles hofft sie, alles duldet sie.

Die Liebe hört niemals auf. Prophetisches Reden nimmt einmal ein Ende, Zungenrede verstummt, Erkenntnis vergeht. Denn Stückwerk ist unser Erkennen und Stückwerk unser Prophezeien. Wenn aberas Vollendete kommt, dann wird das Stückwerk abgetan. Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind, urteilte wie ein Kind. Als ich ein Mann wurde, legte ich ab, was kindlich an mir war. Jetzt sehen wir in einem Spiegel alles rätselhaft, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich ganz erkennen, so wie ich ganz erkannt worden bin.

Jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, dise drei; doch am größten unter ihnen ist die Liebe.

(1. Korinther, 13, 1-13)



Quelle:
Die Bibel. Die Heilige Schrift des Alten und des Neuen Bundes. Vollständige deutsche Ausgabe, Verlag Herder, Freiburg un Breisgau, 2007,
(S. 1198 f)

Freitag, 25. Februar 2011

BEANTWORTUNG DER FRAGE: WAS IST AUFKLÄRUNG?


von
Immanuel Kant


Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.

Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es Anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, u.s.w., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Daß der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperrten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen droht, wenn sie es versuchen allein zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einigemal Fallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der Art macht doch schüchtern und schreckt gemeinhin von allen ferneren Versuchen ab.

Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. Er hat sie sogar lieb gewonnen und ist vor der Hand wirklich unfähig, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, weil man ihn niemals den Versuch davon machen ließ. Satzungen und Formeln, diese mechanischen Werkzeuge eines vernünftigen Gebrauchs oder vielmehr Mißbrauchs seiner Naturgaben, sind die Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit. Wer sie auch abwürfe, würde dennoch auch über den schmalsten Graben einen nur unsicheren Sprung tun, weil er zu dergleichen freier Bewegung nicht gewöhnt ist. Daher gibt es nur Wenige, denen es gelungen ist, durch eigene Bearbeitung ihres Geistes sich aus der Unmündigkeit heraus zu wickeln und dennoch einen sicheren Gang zu tun.

Daß aber ein Publikum sich selbst aufkläre, ist eher möglich; ja es ist, wenn man ihm nur Freiheit läßt, beinahe unausbleiblich. Denn da werden sich immer einige Selbstdenkende sogar unter den eingesetzten Vormündern des großen Haufens finden, welche, nachdem sie das Joch der Unmündigkeit selbst abgeworfen haben, den Geist einer vernünftigen Schätzung des eigenen Werts und des Berufs jedes Menschen selbst zu denken um sich verbreiten werden. Besonders ist hierbei: daß das Publikum, welches zuvor von ihnen unter dieses Joch gebracht worden, sie danach selbst zwingt darunter zu bleiben, wenn es von einigen seiner Vormünder, die selbst aller Aufklärung unfähig sind, dazu aufgewiegelt worden; so schädlich ist es Vorurteile zu pflanzen, weil sie sich zuletzt an denen selbst rächen, die oder deren Vorgänger ihre Urheber gewesen sind. Daher kann ein Publikum nur langsam zur Aufklärung gelangen. durch eine Revolution wird vielleicht wohl ein Abfall von persönlichem Despotismus und gewinnsüchtiger oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber niemals wahre Reform der Denkungsart zustande kommen; sondern neue Vorurteile werden ebensowohl als die alten zum Leitbande des gedankenlosen großen Haufens dienen.

Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen. Nun höre ich aber von allen Seiten rufen: räsonniert nicht! Der Offizier sagt: räsonniert nicht, sondern exerziert! Der Finanzrat: räsonniert nicht, sondern bezahlt! Der Geistliche: räsonniert nicht, sondern glaubt! (Nur ein einziger Herr in der Welt sagt: räsonniert, so viel ihr wollt, und worüber ihr wollt; aber gehorcht!) Hier ist überall Einschränkung der Freiheit. Welche Einschränkung aber ist der Aufklärung hinderlich? welche nicht, sondern ihr wohl gar beförderlich? – Ich antworte: der öffentliche Gebrauch seiner Vernunft muß jederzeit frei sein, und der allein kann Aufklärung unter Menschen zustande bringen; der Privatgebrauch derselben aber darf öfters sehr enge eingeschränkt sein, ohne doch darum den Fortschritt der Aufklärung sonderlich zu hindern. Ich verstehe aber unter dem öffentlichen Gebrauch seiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht. Den Privatgebrauch nenne ich denjenigen, den er in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten oder Amte von seiner Vernunft machen darf. Nun ist zu manchen Geschäften, die in das Interesse des gemeinen Wesens laufen, ein gewisser Mechanism notwendig, vermittels dessen einige Glieder des gemeinen Wesens sich bloß passiv verhalten müssen, um durch eine künstliche Einhelligkeit von der Regierung zu öffentlichen Zwecken gerichtet, oder wenigstens von der Zerstörung dieser Zwecke abgehalten zu werden. Hier ist es nun freilich nicht erlaubt, zu räsonnieren; sondern man muß gehorchen. So fern sich aber dieser Teil der Maschine zugleich als Glied eines ganzen gemeinen Wesens, ja sogar der Weltbürgergesellschaft ansieht, mithin in der Qualität eines Gelehrten, der sich an ein Publikum im eigentlichen Verstande durch Schriften wendet: kann er allerdings räsonnieren, ohne daß dadurch die Geschäfte leiden, zu denen er zum Teile als passives Glied angesetzt ist. So würde es sehr verderblich sein, wenn ein Offizier, dem von seinen Oberen etwas anbefohlen wird, im Dienste über die Zweckmäßigkeit oder Nützlichkeit dieses Befehls laut vernünfteln wollte; er muß gehorchen. Es kann ihm aber billigermaßen nicht verwehrt werden, als Gelehrter über die Fehler im Kriegesdienste Anmerkungen zu machen und diese seinem Publikum zur Beurteilung vorzulegen. Der Bürger kann sich nicht weigern, die ihm auferlegten Abgaben zu leisten; sogar kann ein vorwitziger Tadel solcher Auflagen, wenn sie von ihm geleistet werden sollen, als ein Skandal (das allgemeine Widersetzlichkeiten veranlassen könnte) bestraft werden. Eben derselbe handelt demungeachtet der Pflicht eines Bürgers nicht entgegen, wenn er als Gelehrter wider die Unschicklichkeit oder auch Ungerechtigkeit solcher Ausschreibungen öffentlich seine Gedanken äußert. Ebenso ist ein Geistlicher verbunden, seinen Katechismusschülern und seiner Gemeinde nach dem Symbol der Kirche, der er dient, seinen Vortrag zu tun; denn er ist auf diese Bedingung angenommen worden. Aber als Gelehrter hat er volle Freiheit, ja sogar den Beruf dazu, alle seine sorgfältig geprüften und wohlmeinenden Gedanken über das Fehlerhafte in jenem Symbol und Vorschläge wegen besserer Einrichtung des Religions- und Kirchenwesens dem Publikum mitzuteilen. Es ist hiebei auch nichts, was dem Gewissen zur Last gelegt werden könnte. Denn was er infolge seines Amts als Geschäftträger der Kirche lehrt, das stellt er als etwas vor, in Ansehung dessen er nicht freie Gewalt hat nach eigenem Gutdünken zu lehren, sondern das er nach Vorschrift und im Namen eines anderen vorzutragen angestellt ist. Er wird sagen: unsere Kirche lehrt dieses oder jenes; das sind die Beweisgründe, deren sie sich bedient. Er zieht alsdann allen praktischen Nutzen für seine Gemeinde aus Satzungen, die er selbst nicht mit voller Überzeugung unterschreiben würde, zu deren Vortrag er sich gleichwohl anheischig machen kann, weil es doch nicht ganz unmöglich ist, daß darin Wahrheit verborgen läge, auf alle Fälle aber wenigstens doch nichts der inneren Religion Widersprechendes darin angetroffen wird. Denn glaubte er das letztere darin zu finden, so würde er sein Amt mit Gewissen nicht verwalten können; er müßte es niederlegen. Der Gebrauch also, den ein angestellter Lehrer von seiner Vernunft vor seiner Gemeinde macht, ist bloß ein Privatgebrauch: weil diese immer nur eine häusliche, obwohl noch so große Versammlung ist; und in Ansehung dessen ist er als Priester nicht frei und darf es auch nicht sein, weil er einen fremden Auftrag ausrichtet. Dagegen als Gelehrter, der durch Schriften zum eigentlichen Publikum, nämlich der Welt, spricht, mithin der Geistliche im öffentlichen Gebrauche seiner Vernunft genießt einer uneingeschränkte Freiheit, sich seiner eigenen Vernunft zu bedienen und in seiner eigenen Person zu sprechen. Denn daß die Vormünder des Volks (in geistlichen Dingen) selbst wieder unmündig sein sollen, ist eine Ungereimtheit, die auf Verewigung der Ungereimtheiten hinausläuft.

Aber sollte nicht eine Gesellschaft von Geistlichen, etwa eine Kirchenversammlung, oder eine ehrwürdige Classis (wie sie sich unter den Holländern selbst nennt), berechtigt sein, sich eidlich untereinander auf ein gewisses unveränderliches Symbol zu verpflichten, um so eine unaufhörliche Obervormundschaft über jedes ihrer Glieder und vermittels ihrer über das Volk zu führen und diese sogar zu verewigen? Ich sage: das ist ganz unmöglich. Ein solcher Kontrakt, der auf immer alle weitere Aufklärung vom Menschengeschlechte abzuhalten geschlossen würde, ist schlechterdings null und nichtig; und sollte er auch durch die oberste Gewalt, durch Reichstage und die feierlichsten Friedensschlüsse bestätigt sein. Ein Zeitalter kann sich nicht verbünden und darauf verschwören, das folgende in einen Zustand zu setzen, darin es ihm unmöglich werden muß, seine (vornehmlich so sehr angelegentliche) Erkenntnisse zu erweitern, von Irrtümern zu reinigen und überhaupt in der Aufklärung weiter zu schreiten. Das wäre ein Verbrechen wider die menschliche Natur, deren ursprüngliche Bestimmung gerade in diesem Fortschreiten besteht; und die Nachkommen sind also vollkommen dazu berechtigt, jene Beschlüsse, als unbefugter und frevelhafter Weise genommen, zu verwerfen. Der Probierstein alles dessen, was über ein Volk als Gesetz beschlossen werden kann, liegt in der Frage: ob ein Volk sich selbst wohl ein solches Gesetz auferlegen könnte. Nun wäre dieses wohl gleichsam in der Erwartung eines besseren auf eine bestimmte kurze Zeit möglich, um eine gewisse Ordnung einzuführen: indem man es zugleich jedem der Bürger, vornehmlich dem Geistlichen frei ließe, in der Qualität eines Gelehrten öffentlich, d.i. durch Schriften, über das Fehlerhafte der dermaligen Einrichtung seine Anmerkungen zu machen, indessen die eingeführte Ordnung noch immer forzdauerte, bis die Einsicht in die Beschaffenheit dieser Sachen öffentlich so weit gekommen und bewährt worden, daß sie durch Vereínigung ihrer Stimmen (wenngleich nicht aller) einen Vorschlag vor den Thron bringen könnte, um diejenigen Gemeinden in Schutz zu nehmen, die sich etwa nach ihren Begriffen der besseren Einsicht zu einer veränderten Religionseinrichtung geeinigt hätten, ohne doch diejenigen zu hindern, die es beim Alten wollten bewenden lassen. Aber auf eine beharrliche, von Niemanden öffentlich zu bezweifelnde Religionsverfassung auch nur binnen der Lebensdauer eines Menschen sich zu einigen und dadurch einen Zeitraum in dem Fortgange der Menschheit zur Verbesserung gleichsam zu vernichten und fruchtlos, dadurch aber wohl gar der Nachkommenschaft nachteilig zu machen, ist schlechterdings unerlaubt. Ein Mensch kann zwar für seine Person und auch alsdann nur auf einige Zeit in dem, was ihm zu wissen obliegt, die Aufklärung aufschieben; aber auf sie Verzicht zu tun, es sei für seine Person, mehr aber noch für die Nachkommenschaft, heißt die heiligen Rechte der Menschheit verletzen und mit Füßen treten. Was aber nicht einmal ein Volk über sich selbst beschließen darf, das darf noch weniger ein Monarch über das Volk beschließen; denn sein gesetzgebendes Ansehen beruht eben darauf, daß er den gesamten Volkswillen in dem seinigen vereinigt. Wenn er nur darauf sieht, daß alle wahre oder vermeintliche Verbesserung mit der bürgerlichen Ordnung zusammen bestehe: so kann er seine Untertanen übrigens nur selbst machen lassen, was sie um ihres Seelenheils willen zu tun nötig finden; das geht ihn nichts an, wohl aber zu verhüten, daß nicht einer den andern gewalttätig hindere, an der Bestimmung und Beförderung desselben nach allem seinem Vermögen zu arbeiten. Es tut selbst seiner Majestät Abbruch, wenn er sich hier einmischt, indem er die Schriften, wodurch seine Untertanen ihre Einsichten ins Reine zu bringen suchen, seiner Regierungsaufsicht würdigt, sowohl wenn er dieses aus eigener höchster Einsicht tut, wo er sich dem Vorwurfe aussetzt: Caesar non est supra Grammaticos, als auch und noch weit mehr, wenn er seine oberste Gewalt so weit erniedrigt, den geistlichen Despotismus einiger Tyrannen in seinem Staate gegen seine übrigen Untertanen zu unterstützen.

Wenn denn nun gefragt wird: Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? so ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung. Daß die Menschen, wie die Sachen jetzt stehen, im Ganzen genommen, schon imstande wären, oder darin auch nur gesetzt werden könnten, in Religionsdingen sich ihres eigenen Verstandes ohne Leitung eines Anderen sicher und gut zu bedienen, daran fehlt noch sehr viel. Allein daß jetzt ihnen doch das Feld geöffnet wird, sich dahin frei zu bearbeiten, und die Hindernisse der allgemeinen Aufklärung, oder des Ausganges aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit allmählich weniger werden, davon haben wir doch deutliche Anzeigen. In diesem Betracht ist dieses Zeitalter das Zeitalter der Aufklärung, oder das Jahrhundert Friederichs.

Ein Fürst, der es seiner nicht unwürdig findet, zu sagen: daß er es für Pflicht halte, in Religionsdingen den Menschen nichts vorzuschreiben, sondern ihnen darin volle Freiheit zu lassen, der also selbst den hochmütigen Namen der Toleranz von sich ablehnt, ist selbst aufgeklärt und verdient von der dankbaren Welt und Nachwelt als derjenige gepriesen zu werden, der zuerst das menschliche Geschlecht der Unmündigkeit wenigstens von Seiten der Regierung entschlug und Jedem frei ließ, sich in allem, was Gewissensangelegenheit ist, seiner eigenen Vernunft zu bedienen. Unter ihm dürfen verehrungswürdige Geistliche unbeschadet ihrer Amtspflicht ihre vom angenommenen Symbol hier oder da abweichenden Urteile und Einsichten in der Qualität der Gelehrten frei und öffentlich der Welt zur Prüfung darlegen; noch mehr aber jeder andere, der durch keine Amtspflicht eingeschränkt ist. Dieser Geist der Freiheit breitet sich außerhalb aus, selbst da, wo er mit äußeren Hindernissen einer sich selbst mißverstehenden Regierung zu ringen hat. Denn es leuchtet dieser doch ein Beispiel vor, daß bei Freiheit für die öffentliche Ruhe und Einigkeit des gemeinen Wesens nicht das Mindeste zu besorgen sei. Die Menschen arbeiten sich von selbst nach und nach aus der Roheit heraus, wenn man nur nicht absichtlich künstelt, um sie darin zu erhalten.

Ich habe den Hauptpunkt der Aufklärung, d.i. des Ausgangs der Menschen aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit, vorzüglich in Religionssachen gesetzt: weil in Ansehung der Künste und Wissenschaften unsere Beherrscher kein Interesse haben, den Vormund über ihre Untertanen zu spielen; überdem auch jene Unmündigkeit, so wie die schädlichste, also auch die entehrendste unter allen ist. Aber die Denkungsart eines Staatsoberhaupts, der die erstere begünstigt, geht noch weiter und sieht ein: daß selbst in Ansehung seiner Gesetzgebung es ohne Gefahr sei, seinen Untertanen zu erlauben, von ihrer eigenen Vernunft öffentlichen Gebrauch zu machen und ihre Gedanken über eine bessere Abfassung derselben sogar mit einer freimütigen Kritik der schon gegebenen der Welt öffentlich vorzulegen; davon wir ein glänzendes Beispiel haben, wodurch noch kein Monarch demjenigen vorging, welchen wir verehren.

Aber auch nur derjenige, der, selbst aufgeklärt, sich nicht vor Schatten fürchtet, zugleich aber ein wohldiszipliniertes zahlreiches Heer zum Bürgen der öffentlichen Ruhe zur Hand hat, kann das sagen, was ein Freistaat nicht wagen darf: räsonniert, soviel ihr wollt, und worüber ihr wollt; nur gehorcht! So zeigt sich hier ein befremdlicher, nicht erwarteter Gang menschlicher Dinge; so wie auch sonst, wenn man ihn im Großen betrachtet, darin fast alles paradox ist. Ein größerer Grad bürgerlicher Freiheit scheint der Freiheit des Geistes des Volks vorteilhaft und setzt ihr doch unübersteigliche Schranken; ein Grad weniger von jener verschafft hingegen diesem Raum, sich nach allem seinem Vermögen auszubreiten. Wenn denn die Natur unter dieser harten Hülle den Keim, für den sie am zärtlichsten sorgt, nämlich den Hang und Beruf zum freien Denken, ausgewickelt hat: so wirkt dieser allmählig zurück auf die Sinnesart des Volks (wodurch dieses der Freiheit zu handeln nach und nach fähiger wird) und endlich auch sogar auf die Grundsätze der Regierung, die es ihr selbst zuträglich findet, den Menschen, der nun mehr als Maschine ist, seiner Würde gemäß zu behandeln.

Königsberg in Preußen, den 30. Septemb. 1784.

Donnerstag, 24. Februar 2011

GRÄBERSTRASSE




1. DER WEG
von
OSKAR LOERKE
(Zum 70. Todestag des Dichters)



Ich kühle mir den Rausch des Herzens ab,
ich schwemme dir die Träume farbenleer,
ich schöpfe Nebel, die glimmenden, aus,
ich falle über die brennende Quelle her –
Tief unten liegt die Erde noch in Stürmen.

Du hörtest deinen regen Sommer doch
Manchmal auf rotem Abendmonde wehn?
Da sahst du sie, vor Feinden erhöht und leicht,
du sahst sie, ruhsam verschifft, durch die Himmel gehen?
Tief unten lag die Erde in Stürmen.

Dich hungert nicht, du sinnst nur: süßes Mehl
Erwuchs aus heißem Wurz im Pisangbaum,
des gelbe Schote du hältst und hältst –
umblaut von Eise schon glänzt dir die Hand im Raum.
Tief unten liegt die Erde in Stürmen.

Ich kühle dir den Rausch des Herzens ab,
ich schwemme dir die Träume farbenleer,
ich schöpfe Nebel, die glimmen, aus,
ich falle über die brennenden Quellen her.
Tief unten liegt die Erde in Stürmen.



Bildnachweis:
http://www.badische-zeitung.de/literatur-rezensionen/das-radikale-und-konservative-sind-in-der-kunst-eins--41158786.html

Sonntag, 20. Februar 2011

UNTERM WEISSEN BAUME SITZEND


von
Heinrich Heine

Unterm weißen Baume sitzend,
Hörst du fern die Winde schrillen,
Siehst, wie oben stumme Wolken
Sich in Nebeldecken hüllen;

Siehst, wie unten ausgestorben
Wald und Flur, wie kahl geschoren; -
Um dich Winter, in dir Winter,
Und dein Herz ist eingefroren.

Plötzlich fallen auf dich nieder
Weiße Flocken, und verdrossen
Meinst du schon, mit Schneegestöber
Hab der Baum dich übergossen.

Doch es ist kein Schneegestöber,
Merkst es bald mit freudgem Schrecken;
Duftge Frühlingsblüten sind es,
Die dich necken und bedecken.

Welch ein schauersüßer Zauber!
Winter wandelt sich in Maie,
Schnee verwandelt sich in Blüten,
Und dein Herz es liebt aufs neue.




LIEBE, ACHJA

von
Ludwig Fels


Ein Gedicht über die Liebe schreiben

vom Schlaf träumen, bevor man stirbt

ein Gedicht über die Liebe, aber

welches Gedicht über welche Liebe

und was, wenn die Liebe

gar keine Liebe war und das Leben

viel zu kurz für den ersten

Kuß?



Ludwig Fels (2010) Egal wo das Ende der Welt ist, Salzburg, 150 Seiten, 20,-- Euro
(Zitiert nach: DIE ZEIT, Nr.8, 17. Februar 2011, S. 51)


Bildquelle: Ludwig Fels bei seiner Lesung "Reise zum Mittelpunkt des Herzens" in der "Blue Box" des Staatstheaters Nürnberg, vom 22. Oktober 2007, Foto Rolf Sokolowski
http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:Ludwig_Fels.jpg&filetimestamp=20071114071245

Donnerstag, 17. Februar 2011

WANDERE!

von
HEINRICH HEINE


Wenn dich ein Weib verraten hat,
So liebe flink eine Andre;
Noch besser wär es, du ließest die Stadt -
Schnüre den Ranzen und wandre!

Du findest bald einen blauen See,
Umringt von Trauerweiden;
Hier weinst du aus dein kleines Weh
Und deine engen Leiden.

Wenn du den steilen Berg ersteigst,
Wirst du beträchtlich ächzen;
Doch wenn du den felsigen Gipfel erreichst,
Hörst du die Adler krächzen.

Dort wirst du selbst ein Adler fast,
Du bist wie neugeboren,
Du fühlst dich frei, du fühlst: du hast
Dort unten nicht viel verloren.

BRICH AUS IN LAUTEN KLAGEN

Zum "RABBI VON BACHERACH"
von
HEINRICH HEINE
(Zu seinem 215. Todestag am 17. Februar 2011)

Brich aus in lauten Klagen,
Du düstres Martyrerlied,
Das ich so lang getragen
Im flammenstillen Gemüt!

Es dringt in alle Ohren,
Und durch die Ohren ins Herz;
Ich habe gewaltig beschworen
Den tausendjährigen Schmerz.

Es weinen die Großen und Kleinen,
Sogar die kalten Herrn,
Die Frauen und Blumen weinen,
Es weinen am Himmel die Stern!

Und alle die Tränen fließen
Nach Süden, im stillen Verein,
Sie fließen und ergießen
Sich all in den Jordan hinein.



Zum "RABBI VON BACHERACH"

Donnerstag, 3. Februar 2011

NÄHE DES GELIEBTEN

von
Johann Wolfgang Goethe



Ich denke dein, wenn mir der Sonne Schimmer
vom Meere strahlt;
Ich denke dein, wenn sich des Mondes Flimmer
In Quellen malt.

Ich sehe dich, wenn auf dem fernen Wege
Der Staub sich hebt;
In tiefer Nacht, wenn auf dem schmalen Stege
Der Wandrer bebt.

Ich höre dich, wenn dort mit dumpfem Rauschen
Die Welle steigt.
Im stillen Haine geh' ich oft zu lauschen,
Wenn alles schweigt.

Ich bin bei dir; du seist auch noch so ferne,
Du bist mir nah!
Die Sonne sinkt, bald leuchten mir die Sterne.
O, wärst du da!