Freitag, 23. November 2012

MAN SAGT MIR ZWAR, ICH SOLL DICH HASSEN....


Sybilla Schwarz
(Die Verfasserin lebte 1621 und starb 1631 in Greifswald.)


Man sagt mir zwahr: Ich soll dich hassen
und nicht mehr lieben wie ich pflag,
so kan ich doch nicht vohn dir lassen ,
ich fliehe dich auch wie ich mag.

Wie offt hab ich mir fürgenommen,
du sollest mir in meinen Sinn,
O Galatee, nicht mehr kommen.
Nein! Nein! ich lieb dich wie vorhin.

Wir sind je nicht zu gleich gebohren,
eß gleichen unsre Sternen nicht;
mir hette Venus sich verloren,
dir aber schien ihr helles Licht.

Werd ich durch List dan hintergangen
und hat man mir was beygebracht ,
daß ich so stets an dir muß hangen
und ruhe weder Tag noch Nacht?

Seh ich dich an so fühl ich Schmerzen;
genieß ich deiner Gegenwart
so ist mir auch nicht wohl zuhm Herzen.
Ich stehe bey dir wie erstart.

Die Rede will mir ganz nicht fliessen.
Ich zittre wie ein Espen Laub;
der Augen Quell muß sich ergiessen.
Ich bin wie Sinnloß, stumb und taub.

Auch glaub ich, daß auß diser Ketten
und auß dem harten Liebes Streit
mich Perseus selbst nicht könt erretten
der doch Andromeden befreyt.

Darumb woll Cloto meinem Leben
weil sonst mir nicht zu helffen steht
die längst gewündschet' Endschafft geben
dardurch ein Mensch der Lieb entgeht.



Samstag, 22. September 2012

HERBSTTAG

von Rainer Maria Rilke

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gieb ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.


Herbstlich geschmückter Taufstein der Kirche zu Niederroßla

Donnerstag, 30. August 2012

JEMAND, DER VERGISST

von Jehuda Amichai
(1924 - 2000)


Jemand, der einen Menschen vergißt,
vergißt drei: ihn,
den Namen der Straße, in der er wohnte,
und den Menschen, nach dem die Straße benannt wurde.

Du mußt nicht weinen.
Zwei Eukalyptusbäume standen dort.
Sie sind bestimmt gewachsen. Gegen
Abend war es. Du mußt nicht weinen.

Das ist nun alles ruhig,
richtig und weise und etwas traurig,
wie ein Vater, der allein ein kleines Kind aufzieht,
wie ein kleines Kind, das allein bei einem Vater aufwuchs.





Quelle:
Jehuda Amichai (1992 - Neuausgabe) WIE SCHÖN SIND DEINE ZELTE, JAKOB
R. Piper GmbH & Co. KG, München, 1988, S. 84
ISBN: 9783492-115582, Preis 16,80 DM

Samstag, 14. April 2012

GEHEIMNIS DER JUGEND

von Wladimir Wladimirowitsch Majakowskij



Nein, nicht jene sind jung,
die gelümmelt ins Boot und auf Wiesen
mit Grölen und Johlen den Trunk
sich hinter die Binde gießen.

Nicht jene nenn ich jung,
die nachts, untre Frühlingshimmeln,
als Modenarren mit Schwung
glockenhosig am Bummelplatz bimmeln.

Nein, nicht jene sind jung,
die des Lebens Frührotfreuden
beim frühesten Knospensprung
in Liebschaften billig vergeuden.

Heißt dies etwa Jugend? 
Nein.
Es genügt nicht,
achtzehn zu sein.

Jung nenn ich jene unverzagt,
der zu gelichteten Kampfschar der Alten
im Namen der Nachgeborenen sagt:
Wir wollen das Dasein neu gestalten.

Jugend - der Name ist Gabe, die ehrt,
an die junge Garde der Zukunftswacht,
an den, der uns streitbaren Frohsinn beschert
und unsere Tage glücklich macht.