Sonntag, 24. Juli 2011

TRAGÖDIE DER KINDHEIT

von
Friedrich Nietzsche





Es kommt vielleicht nicht selten vor, dass edel- und hochstrebende Menschen ihren härtesten Kampf in der Kindheit zu bestehen haben: etwa dadurch, dass sie ihre Gesinnung gegen einen niedrig denkenden, dem Schein und der Lügnerei ergebenen Vater durchsetzen müssen, oder fortwährend, wie Lord Byron, im Kampfe mit einer kindischen und zornwüthigen Mutter leben. Hat man so Etwas erlebt, so wird man sein Leben lang es nicht verschmerzen, zu wissen, wer Einem eigentlich der grösste, der gefährlichste Feind gewesen ist.


(Aus: MENSCHLICHES, ALLZUMENSCHLICHES)

Dienstag, 19. Juli 2011

NUR WER DIE SEHNSUCHT KENNT

von
Johann Wolfgang von Goethe


Nur wer die Sehnsucht kennt,

Weiß, was ich leide!

Allein und abgetrennt

Von aller Freude,

Seh' ich an's Firmament

Nach jener Seite.

Ach! der mich liebt und kennt,

Ist in der Weite.

Es schwindelt mir, es brennt.

Mein Eingeweide.

Nur wer die Sehnsucht kennt,
Weiß, was ich leide!

Samstag, 9. Juli 2011

MEIN AUGE SIEHT AM BESTEN, SCHLIESST ES SICH

Sonett XLIII
von William Shakespeare
in der Übersetzung von Stefan George





Mein auge sieht am besten - schliesst es sich -
Da es sich tags an nichtige dinge wendet.
Doch - schlaf ich - blickt in träumen es auf dich -
Ist nächtig-hell - hell in die nacht gesendet.

Denn du - dess schatten hell durch schatten bricht -
Wie machte deines schattens form erst froh
Den klaren tag durch dein viel klarer licht -
Glänzt schon geschlossnem aug dein schatten so!

Wie - sag ich - wär das auges glück erst gross
Wenn es dich sähe im lebendigen tag -
Da schon in toter nacht dein schatten bloss
Durch schweren schlaf vor blinden augen lag.

Tag ist wie nacht zu sehn eh ich ich sah -
nacht heller tag - bringt dich der traum mir nah.